Neues aus dem Archiv
Hinweis zur Schulleitung des Grunewald-Gymnasiums
im Nationalsozialismus
(heute Walther-Rathenau-Gymnasium)

„Humanität können wir uns nicht leisten“ war jetzt die Devise, die der kurzzeitig eingesetzte kommissarischer Schulleiter Heinz Hempel verkündete. Sein Nachfolger, Wilhelm Waldvogel (1890-1973), ein überzeugter Nationalsozialist und Parteigenosse, leitete die Schule bis 1945.
Gertrud Fischer-Sabrow
(frühere Studiendirektorin am Walther-Rathenau-Gymnasium,
jetzt Mitarbeiterin im Schularchiv)
Hans Goldmann (1922-1943)
Von der Villa in Dahlem über die Zwangsarbeit bei Siemens in den Tod in Auschwitz
Das kurze Leben von Hans Goldmann (1922-1943), Schüler des Grunewald-Gymnasiums von 1933-1938
Klassenfoto mit Hans Goldmann von 1937: 1. Reihe, zweiter von links
Stolperstein Hans Goldmann vor dem Haus Schellendorfstraße 31
Die Arbeit im Archiv unserer Schule führt oft zu Entdeckungen, die zu einer weiteren Spurensuche in andere Archive führen. Ein Ergebnis ist die Recherche zu Hans Goldmann, dessen Tod in Auschwitz 1943 exemplarisch Judenverfolgung und Holocaust im Rahmen der Schulgeschichte näher bringen kann. Mehr erfahren Sie hier!
Gertrud Fischer-Sabrow
November 2016
Zum 100jährigen Geburtstag von Marie-Luise Marx, ermordet 1943 in Auschwitz
Bevor das Jahr 2016 zu Ende geht, noch im November, wenn viele von uns am Jahrestag der Pogromnacht am Schweigemarsch zum S-Bahnhof Grunewald, dem Ort der Deportation vieler Berliner Juden, teilnehmen, möchte ich an den 100jährigen Geburtstag von Marie Luise Marx, einer Schülerin des Grunewald-Gymnasiums, erinnern, deren tragisches Schicksal weitgehend unbekannt ist. Während die meisten der jüdischen Schülerinnen und Schüler, die 1933 die Schule verlassen mussten, dank Geld und Weitblick ihrer Eltern rechtzeitig emigrieren konnten, im Ausland ihre Ausbildung fortsetzten, anspruchsvolle Berufe fanden, Familien gründeten und oft beachtliche Karrieren machten, sind diejenigen, die von den Nationalsozialisten in den Konzentrationslagern ermordet wurden, eher unbekannt geblieben. Geschichte wird von den Überlebenden geschrieben, Tote haben keine Stimme. Es sei denn, sie wird ihnen verliehen, wie Renate Alsberg es für ihre Freundin Marie-Luise, genannt „Loulou“, gemacht hat.
Ich gebe im Folgenden die Ausführungen von Renate Alsberg Hunter wieder, die sie 1987 für Ronney Harlow aufgeschrieben hat, der die Berichte emigrierter Schülerinnen und Schüler des Grunewald-Gymnasiums unter dem Titel „Their own lifes“ gesammelt hat. Ein Exemplar dieser hektographierten Broschüre befindet sich im Archiv des Walther Rathenau-Gymnasiums.
Marie Luise Marx um 1935
Marie-Luise wurde 1916 in Berlin geboren. Die Familie, der Vater war Deutscher, die Mutter Französin, wohnte nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in Berlin-Dahlem. Marie-Luise besuchte zunächst das Bismarck-Lyzeum (heute Hildegard Wegscheider Gymnasium), dann ab 1931 das Grunewald-Gymnasium, das als Jungenschule einen ausgezeichneten Ruf besaß und auch Mädchen aufnahm. 1931 waren unter 700 Jungen 7 Mädchen auf der Schule.
Das Grunewald-Gymnasium in den frühen 30ern des letzten Jahrhunderts
1933 musste Marie-Luise gemäß den neuen rassistischen Bestimmungen wie die meisten anderen jüdischen Schülerinnen und Schüler, darunter auch ihre Freundin Renate Alsberg, das Grunewald – Gymnasium verlassen. Sie ging nach Frankreich, wo die Familie ihrer Mutter lebte und nahm die französische Staatsbürgerschaft ihrer Mutter an. Bei ihrer Schwester, die in Paris mit einem französischen Filmregisseur verheiratet war, kam Marie-Luise unter, machte eine Ausbildung zur Fotografin und übte ihren Beruf erfolgreich aus.
Der Überfall der deutschen Wehrmacht auf Frankreich änderte 1940 die Situation für alle Emigranten. Zunächst entgingen Marie-Luise und ihre Familie dem Zugriff der französischen Behörden, die sie wegen ihrer französischen Pässe nicht wie z.B. ihre Freundin Renate Alsberg zur feindlichen Ausländerin erklären und internieren konnten. Marie Luises Mutter beharrte in dem Glauben, die französische Staatbürgerschaft sei eine Garantie für Sicherheit, auch nach der deutschen Okkupation der bis November 1942 unbesetzten Zone, in der die Familie Marx sich aufhielt. Alle Warnungen schlug sie in den Wind. Renate Alsbergs Schwiegervater schlug in einem Brief Mutter und Tochter Marx vor, zu ihm nach Lissabon zu kommen, um von dort weiter auszuwandern, so wie es Renate bereits gemacht hatte. Marie-Luises Schwester Evy und ihre Familie verschafften sich neue Papiere, die ihre jüdische Identität nicht verrieten, und drängten Marie Luise und ihre Mutter desgleichen zu tun. Von all dem wollte Marie-Luises Mutter nichts wissen. Sie wollte nicht in ein fremdes Land, dessen Sprache sie nicht verstand. Als Französin fühlte sie sich sicher und sie meinte, in Kriegszeiten müsste die Familie zusammenbleiben.
Am 12. September 1943 wurden Marie-Luise und ihre Mutter in Nizza von der Gestapo abgeholt und in das Internierungslager Drancy nördlich von Paris gebracht. Die Mutter war überzeugt, dass alles ein Missverständnis sei und sie bald wieder frei gelassen würden, wie sie der Tochter Evy in zwei kurzen aus dem Lager geschmuggelten Nachrichten mitteilte. Doch nach wenigen Wochen in Drancy wurden Marie Luise und die Mutter nach Auschwitz deportiert, wo beide nach amtlichen Akten im Dezember 1944 in der Gaskammer umgebracht wurden.
Renate Alsbergs Bericht endet mit folgenden Worten: „Seit ich kurz nach der Befreiung Frankreichs hörte, dass Loulou umgebracht worden war, werde ich von den Vorstellungen ihres schrecklichen Todes verfolgt. Ich schätze, dass ihre Biographie einen Misston in deine Sammlung von glücklichen Lebensläufen bringt …. Unglücklicherweise gibt es noch viele andere, die viel zu jung starben…. Aber ach, es wird denen kein Trost gegeben, deren Liebste im Holocaust starben.“
Gertrud Fischer-Sabrow